You're a small little ****


Anastasiia Tatarenko



„Bist du eine Künstlerin, Nastya? Oder bist du nur eine Babysitterin und läufst jetzt mit anderen Immigranten, die genau wie du in diesem schicken Viertel arbeiten, auf und ab?“

Beides.




Hier sind sie, all meine Freund*innen, die an der Oberwil-Zug-Räbmatt-Haltestelle aus dem Bus 605 aussteigen: eine Ukrainerin (ich blickte einmal zufällig auf ihr Handy), zwei Frauen, die ich als asiatisch wahrnehme, eine lateinamerikanische Frau und ich. Wir tun so, als würden wir uns nicht kennen, obwohl wir seit einem halben Jahr jeden Mittwoch an dieser Haltestelle zusammen aussteigen. Wir steigen auch gemeinsam in den Bus ein und erkennen uns natürlich. Unsere Blicke erfassen dieses Erkennen – und das darauffolgende, krampfhafte Distanzieren: Ich bin nicht mit dir, wir gehören nicht zusammen. Wir sind nicht das Alltägliche: „Migrant*innen, die in einer wohlhabenden Wohngegend in der Schweiz arbeiten, am Stadtrand von Zug, mit einer herrlichen Aussicht auf den See“.

Kürzlich gab es einen filmreifen Raubüberfall in dieser Gegend. Ich erzähle dir, was ich von meiner „Chefin“, der Mutter der Kinder, die ich betreue, gehört habe. So lief es ab: Zwei Männer in einem Auto mit französischen Kennzeichen brachen in eines der schicken Häuser ein. Sie hatten nicht erwartet, dass eine Teenagerin, die Tochter des Hausbesitzers, im Haus war. Sie fesselten sie und schnallten sie an einen Stuhl. In der Zwischenzeit hörte ihr Nachbar, der sich später als örtlicher Polizist herausstellte, ein seltsames Geräusch und ging nachsehen. Und obwohl er eigentlich frei hatte, sah er, dass die Lage ernst war, und beschloss, sie umgehend zu überwältigen – aber er scheiterte und landete schließlich gefesselt neben dem Mädchen. Die Räuber nahmen den Safe und flohen vom Ort. Irgendwie schafften sie es zu entkommen, obwohl es eine Verfolgungsjagd gab und nur eine Straße am See entlang zum Dorf Oberwile führte.

Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Räuber ausgesehen haben, wenn sie es geschafft haben, einen Polizisten zu überwältigen – denn hast du mal die Schweizer Polizei gesehen? Die sehen doch alle aus wie aus dem Avengers-Casting: durchtrainiert, groß, mit schneeweißen Zähnen – Männer wie Frauen. Ich würde sagen, wenn man sie sieht, kommt einem als nächstes wohl der Gedanke an Pornos. Ich bin leider keine Expertin, aber ist das nicht ein typisches Szenario: Feuerwehrmänner, Klempner und natürlich Polizisten? Genau so sieht die Schweizer Polizei aus. Aber vielleicht lag es daran, dass es zwei Räuber waren und unser Held allein war. Vielleicht hat er nicht bemerkt, dass es zwei waren, packte einen und dann sprang unerwartet der zweite hervor. Oder vielleicht war unser Polizist älter? Vielleicht war es der Polizeichef – ist ja immerhin ein wohlhabendes Viertel.

Ich würde gerne wissen, was in diesem Safe war. Natürlich könnte ich nach Informationen suchen, ob sie sie gefasst haben, aber aus irgendeinem Grund möchte ich, dass dieser Film so endet, wie Abenteuerfilme enden. Aus irgendeinem Grund möchte ich glauben, dass diese französischen Räuber fast wie Robin Hoods sind – aber das liegt nur daran, dass ich meinen Job hasse, und das färbt automatisch auf die ganze Nachbarschaft ab. Oder vielleicht waren diese Typen Freunde von diesem Mädchen? Vielleicht hat sie mitgemacht? Vielleicht ist sie immer noch ihre Komplizin – und so hat sie ihre Eltern getäuscht, die ihr ihr Schweizer Erbe mit den Worten „Du musst das Leben kennen“ verweigerten. Na ja, dann würde ich ihr vorschlagen, als Nanny für zwei Kleinkinder zu arbeiten. Dabei würde sie das Leben schon kennenlernen, würde zu ihren Eltern zurückkehren mit den Worten „Ihr hattet recht“, und sie würden sich umarmen und einander weinend in die Arme fallen. Dann hätte sie keinen filmreifen Raubüberfall inszenieren müssen.

Aber die Nanny für zwei Kleinkinder in dieser Geschichte bin ich – und ich bin dem Gedanken an einen Raub schon ziemlich nahe. Leider ist die Familie, für die ich arbeite, nicht so schick und ist gerade in diese Gegend gezogen, also gibt es wahrscheinlich keinen Safe mit Familienschmuck. Aber sie haben eine coole Kaffeemaschine – schade nur, dass Kaffee an Arbeitstagen irgendwie nicht richtig runtergeht. Zwei Tassen, höchstens. Es ist sogar schade, dass ich nicht mal im Voraus genug trinken kann.

Mein Lieblingsspiel mit der Älteren ist „Mutter und Tochter“, im Grunde ein Rollenspiel. Ich bin natürlich die Tochter. Sie bringt mich ins Bett, liest mir ein Buch vor, streichelt meine Arme und meinen Kopf und sagt ‚Schlaf-schlaf‘ – und das sind die süßesten Minuten während der Arbeit. Sie weckt mich immer mit dem Lied „Happy Birthday to you“ – das zweitliebste Szenario jetzt, Geburtstag – und gibt mir einen ausgedachten Kuchen. Gestern haben wir zweimal gespielt, weil die Kleine lange geschlafen hat – und wir können nur spielen, wenn sie schläft. Ach, süsse Minuten auf diesem weichen Sofa.


Jedes Mal frage ich mich, warum ich so müde werde. Vielleicht habe ich die Objektivität schon lange verloren und zehn Stunden einmal die Woche mit zwei Kleinkindern erscheinen mir rational gesehen nicht so eine große Sache, und ich rede mir das ein.  Oder vielleicht ist es wirklich viel. Kürzlich auf einer Party, bei der wir uns von einem Freund verabschieden, der für sechs Monate nach Hongkong geht, unterhielt ich mich mit zwei seiner Kindheitsfreund*innen. Eine von ihnen, Caroline oder Carola oder Corinne, ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern, rief „ZEHN STUNDEN?“ aus, als ob sie es nicht glauben konnte, und beruhigte sich nicht, selbst nachdem ich sagte: „NUR EINMAL DIE WOCHE“. Das sage ich mir immer: „Es ist nur einmal die Woche, also ist es nichts“. Aber Caroline-Carola-Corinne war erschrocken und sagte etwas wie „ZU VIEL“. Vielleicht hat sie recht, und es ist doch zu viel.

Irgendwann nach dem Mittagessen fange ich oft an, herumzulaufen und die Worte „du kleine Schlampe“ vor mich hin zu kauen. Natürlich nicht laut, mein Gott, natürlich nicht. Aber ich fühle diese Worte mit jeder Zelle meines Körpers. Verständlicherweise ist es das Alter, sie testet die Grenzen, sieht, wie weit sie bei mir gehen kann und was ihr dafür passieren wird – drei Jahre alt, in einem Wort. Manchmal wirft sie etwas auf mich oder tritt mit den Füßen, und sie hat immer so einen Gesichtsausdruck und ein Schielen in den Augen, dass ich genau verstehe: Ja, DAS passiert jetzt.

"test-test"

Hört ihr mich?

Hallo an alle in diesem Haus!

Jetzt testen wir Nastyas Stärke! Applaus von den Teddybären-Puppen und natürlich meinem Lieblings-Fuchs!


Die Aufführung zieht sich hin, weil Nastya nicht provoziert werden kann (ja, klar! Aber ich bin Schauspielerin, vergiss das nicht).

WIR GEHEN ÜBER ZUR URSACHENLOSEN HYSTERIE

Zählen wir zusammen!

Eins

Zwei

Drei

SCHREEEEEI

Großartig!

Mission erfüllt!

Danke euch allen und bis ganz baaaaald!“



Und Nastya wird nur leise vor sich hin murmeln „Du kleine Schlampe“, vielleicht sogar ihren Kiefer noch fester zusammenbeißen und sich selbst Raum geben, um ihre Emotionen freizulassen, während sie darüber nachdenkt, wie schwer es ist und wie verletzend es ist, dass ihr niemand einen solchen Raum gegeben hat.

Dann wird das ältere Mädchen auf einem Fahrrad weit voraus auf der Straße vor mir davonfahren, wird nicht reagieren, ich werde mit dem Kinderwagen auf einer kurvenreichen Straße bergauf rennen, weil ich ihren türkisfarbenen Helm nicht sehen kann; dann werde ich sie endlich einholen, weinend, weil sie gestürzt ist und sich am Knie verletzt hat. Ich werde sie trösten, obwohl ich innerlich wieder „du kleine Schlampe“ hören werde, gemischt mit dem Adrenalin der Angst, die ich ihretwegen hatte; dann werde ich versuchen, ihr behutsam, aber keineswegs anklagend, zu erklären, dass man das nicht tun kann; so dass sie mir am Ende, wenn ich meine Turnschuhe schnüre und endlich gehe, zu mir sagt: „Das war heute so cool! Lass es uns wieder machen!“ Übrigens, genau das hat sie gesagt: Lass es uns wieder machen. „Natürlich machen wir das wieder, Liebling. Was bleibt mir anderes übrig?“

„Alles kann einem Menschen genommen werden, außer einer Sache: die letzte der menschlichen Freiheiten – die Einstellung in jeder gegebenen Situation zu wählen, seinen eigenen Weg zu wählen. Wenn wir nicht mehr imstande sind, eine Situation zu ändern, sind wir herausgefordert, uns selbst zu ändern.“ Viktor E. Frankl.

Es ist sogar unangenehm, ihn hier zu zitieren, aber am Ende läuft es darauf hinaus. Ich denke ständig an diesen Job, an meine Müdigkeit und wie oft ich denke, dass ich keine Wahl habe. Aber diese letzte Wahl kann mir nicht genommen werden.

Wie soll ich mich also dabei fühlen?

Werde ich diesen Job noch ein oder zwei Jahre durchhalten? Wird sich sogar die Ältere an mich erinnern? Wird sie sich daran erinnern, wie wir Kronen gebastelt oder einen Kuchen gebacken haben? Bis jetzt fällt es mir schwer, mich zu lösen und von außen draufzuschauen. Bis jetzt denke ich, dass all diese Arbeit ein langes Überlebensspiel ist. Das Leben mit dem älteren Mädchen hat sich in einer Koalition von „Lass uns Nastyas Stärke testen“ vereint, und sie machen das sehr gut, ehrlich. Aber ich bin auch Nastya-the-Rock.

Werden wir stark, weil wir viel durchgemacht und bewältigt haben, oder macht uns im Gegenteil alles Schwere, was wir durchmachen mussten, ein wenig schwächer? Welche Reserven an Kraft und Stabilität werden uns kostenlos gegeben? Und übrigens, wie sieht es mit Energie aus? Ich habe die gleichen Fragen zur Energie. Gibt es ein Limit? Kann man sie komplett für Unsinn verschwenden und den Rest seines Lebens kraftlos dahinschleppen? Oder meine Lieblingsfrage: Wie viel Energie kann man sich von seinem zukünftigen Selbst leihen? Dann, wenn man den Gürtel enger schnallen und sich zusammenreißen muss und dieses Überwinden immer weitergeht, und kein Ende in Sicht ist, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich Energie und Kraft von seinem zukünftigen Selbst zu nehmen.

Und jetzt bin ich genau dieses „zukünftige Selbst“. Und ich möchte mich vor einem Jahr anrufen und sagen: „Du kleine Schlampe!“

TUE ES NICHT

Tue es einfach nicht

Denk nicht mal dran!

Du bist eine kleine Schlampe

Du bist eine kleine Schlampe, Nastya








Potpuri është një platformë e pavarur botuese dhe iniciativë bashkëpunuese e fokusuar në metodologjitë eksperimentale të kërkimit, gazetarisë investigative dhe prodhimit. Fokusi i procesit të punës së Potpurit është nxitja e metodologjive kolektive në praktikat e botimit për prodhimin e gazetave fizike. Kolektivi Potpuri është i bazuar ndërmjet Kosovës dhe Zvicrës, aktiviteti ynë kërkon tema dhe urgjenca të përbashkëta sociale si ringjallja e shtypit të shkruar në Kosovë, mungesa e hapësirave institucionale reflektuese për diasporën shqiptare në Zvicër, politikat dhe dukuritë sociale nën përvojat migratore, dhe më e rëndësishmja sigurimi i një hapësire mikpritëse për shprehjet e zërave të padëgjuar brenda mjediseve komerciale.
Potpuri is an independent publishing platform and collaborative initiative focused on experimental methodologies of research, investigative journalism and production. The focus of the work-process of Potpuri is the fostering of collective methodologies in publishing practices for the production of physical newspapers. Potpuri collective is based between Kosovo and Switzerland, our activity seeks for common social themes and urgencies such as the revival of printed press in Kosovo, the absence of reflective institutional spaces for the Albanian diaspora in Switzerland, the politics and social phenomena under migratory experiences, and most importantly providing a welcoming space for expressions of voices unheard within commercial settings.
Potpuri ist eine unabhängige Veröffentlichungsplattform und Initiative, die sich auf experimentelle Forschungsmethoden, investigativen Journalismus und Produktion konzentriert. Der Schwerpunkt des Arbeitsprozesses von Potpuri liegt in der Förderung kollektiver Methoden der Verlagspraxis für die Produktion von Zeitungen. Das Potpuri-Kollektiv arbeitet im Kosovo und der Schweiz. Unsere Themen und Dringlichkeiten wie der Wiederbelebung der gedruckten Presse im Kosovo reichen von dem Fehlen reflektierender institutioneller Räume für die albanische Diaspora in der Schweiz und den sozialen Phänomenen der Migrationserfahrungen. Ein Raum für Ausdruck von Stimmen, die in kommerziellen Umgebungen häufig ungehört bleiben.

This edition was produced with the financial support of the European Union, Provitreff Verein and ici. here together. The content of this publication is the sole responsibility of NGO Rritu and NAFAKË and does not necessarily reflect the views of the European Union or any other funding body.

           
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