You're a small little ****
„Bist du eine Künstlerin, Nastya?
Oder bist du nur eine Babysitterin und läufst jetzt mit anderen Immigranten, die genau wie du in diesem schicken Viertel arbeiten, auf und ab?“
Beides.
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Beides.



Kürzlich gab es einen filmreifen Raubüberfall in dieser Gegend. Ich erzähle dir, was ich von meiner „Chefin“, der Mutter der Kinder, die ich betreue, gehört habe. So lief es ab: Zwei Männer in einem Auto mit französischen Kennzeichen brachen in eines der schicken Häuser ein. Sie hatten nicht erwartet, dass eine Teenagerin, die Tochter des Hausbesitzers, im Haus war. Sie fesselten sie und schnallten sie an einen Stuhl. In der Zwischenzeit hörte ihr Nachbar, der sich später als örtlicher Polizist herausstellte, ein seltsames Geräusch und ging nachsehen. Und obwohl er eigentlich frei hatte, sah er, dass die Lage ernst war, und beschloss, sie umgehend zu überwältigen – aber er scheiterte und landete schließlich gefesselt neben dem Mädchen. Die Räuber nahmen den Safe und flohen vom Ort. Irgendwie schafften sie es zu entkommen, obwohl es eine Verfolgungsjagd gab und nur eine Straße am See entlang zum Dorf Oberwile führte.
Ich versuche mir vorzustellen, wie diese Räuber ausgesehen haben, wenn sie es geschafft haben, einen Polizisten zu überwältigen – denn hast du mal die Schweizer Polizei gesehen? Die sehen doch alle aus wie aus dem Avengers-Casting: durchtrainiert, groß, mit schneeweißen Zähnen – Männer wie Frauen. Ich würde sagen, wenn man sie sieht, kommt einem als nächstes wohl der Gedanke an Pornos. Ich bin leider keine Expertin, aber ist das nicht ein typisches Szenario: Feuerwehrmänner, Klempner und natürlich Polizisten? Genau so sieht die Schweizer Polizei aus. Aber vielleicht lag es daran, dass es zwei Räuber waren und unser Held allein war. Vielleicht hat er nicht bemerkt, dass es zwei waren, packte einen und dann sprang unerwartet der zweite hervor. Oder vielleicht war unser Polizist älter? Vielleicht war es der Polizeichef – ist ja immerhin ein wohlhabendes Viertel.
Ich würde gerne wissen, was in diesem Safe war. Natürlich könnte ich nach Informationen suchen, ob sie sie gefasst haben, aber aus irgendeinem Grund möchte ich, dass dieser Film so endet, wie Abenteuerfilme enden. Aus irgendeinem Grund möchte ich glauben, dass diese französischen Räuber fast wie Robin Hoods sind – aber das liegt nur daran, dass ich meinen Job hasse, und das färbt automatisch auf die ganze Nachbarschaft ab. Oder vielleicht waren diese Typen Freunde von diesem Mädchen? Vielleicht hat sie mitgemacht? Vielleicht ist sie immer noch ihre Komplizin – und so hat sie ihre Eltern getäuscht, die ihr ihr Schweizer Erbe mit den Worten „Du musst das Leben kennen“ verweigerten. Na ja, dann würde ich ihr vorschlagen, als Nanny für zwei Kleinkinder zu arbeiten. Dabei würde sie das Leben schon kennenlernen, würde zu ihren Eltern zurückkehren mit den Worten „Ihr hattet recht“, und sie würden sich umarmen und einander weinend in die Arme fallen. Dann hätte sie keinen filmreifen Raubüberfall inszenieren müssen.
Irgendwann nach dem Mittagessen fange ich oft an, herumzulaufen und die Worte „du kleine Schlampe“ vor mich hin zu kauen. Natürlich nicht laut, mein Gott, natürlich nicht. Aber ich fühle diese Worte mit jeder Zelle meines Körpers. Verständlicherweise ist es das Alter, sie testet die Grenzen, sieht, wie weit sie bei mir gehen kann und was ihr dafür passieren wird – drei Jahre alt, in einem Wort. Manchmal wirft sie etwas auf mich oder tritt mit den Füßen, und sie hat immer so einen Gesichtsausdruck und ein Schielen in den Augen, dass ich genau verstehe: Ja, DAS passiert jetzt.
"test-test"
Hört ihr mich?
Hallo an alle in diesem Haus!
Jetzt testen wir Nastyas Stärke! Applaus von den Teddybären-Puppen und natürlich meinem Lieblings-Fuchs!
Die Aufführung zieht sich hin, weil Nastya nicht provoziert werden kann (ja, klar! Aber ich bin Schauspielerin, vergiss das nicht).
WIR GEHEN ÜBER ZUR URSACHENLOSEN HYSTERIE
Zählen wir zusammen!
Eins
Zwei
Drei
SCHREEEEEI
Großartig!
Mission erfüllt!
Danke euch allen und bis ganz baaaaald!“

Dann wird das ältere Mädchen auf einem Fahrrad weit voraus auf der Straße vor mir davonfahren, wird nicht reagieren, ich werde mit dem Kinderwagen auf einer kurvenreichen Straße bergauf rennen, weil ich ihren türkisfarbenen Helm nicht sehen kann; dann werde ich sie endlich einholen, weinend, weil sie gestürzt ist und sich am Knie verletzt hat. Ich werde sie trösten, obwohl ich innerlich wieder „du kleine Schlampe“ hören werde, gemischt mit dem Adrenalin der Angst, die ich ihretwegen hatte; dann werde ich versuchen, ihr behutsam, aber keineswegs anklagend, zu erklären, dass man das nicht tun kann; so dass sie mir am Ende, wenn ich meine Turnschuhe schnüre und endlich gehe, zu mir sagt: „Das war heute so cool! Lass es uns wieder machen!“ Übrigens, genau das hat sie gesagt: Lass es uns wieder machen. „Natürlich machen wir das wieder, Liebling. Was bleibt mir anderes übrig?“
„Alles kann einem Menschen genommen werden, außer einer Sache: die letzte der menschlichen Freiheiten – die Einstellung in jeder gegebenen Situation zu wählen, seinen eigenen Weg zu wählen. Wenn wir nicht mehr imstande sind, eine Situation zu ändern, sind wir herausgefordert, uns selbst zu ändern.“ Viktor E. Frankl.
Es ist sogar unangenehm, ihn hier zu zitieren, aber am Ende läuft es darauf hinaus. Ich denke ständig an diesen Job, an meine Müdigkeit und wie oft ich denke, dass ich keine Wahl habe. Aber diese letzte Wahl kann mir nicht genommen werden.
Wie soll ich mich also dabei fühlen?
Werde ich diesen Job noch ein oder zwei Jahre durchhalten? Wird sich sogar die Ältere an mich erinnern? Wird sie sich daran erinnern, wie wir Kronen gebastelt oder einen Kuchen gebacken haben? Bis jetzt fällt es mir schwer, mich zu lösen und von außen draufzuschauen. Bis jetzt denke ich, dass all diese Arbeit ein langes Überlebensspiel ist. Das Leben mit dem älteren Mädchen hat sich in einer Koalition von „Lass uns Nastyas Stärke testen“ vereint, und sie machen das sehr gut, ehrlich. Aber ich bin auch Nastya-the-Rock.
Werden wir stark, weil wir viel durchgemacht und bewältigt haben, oder macht uns im Gegenteil alles Schwere, was wir durchmachen mussten, ein wenig schwächer? Welche Reserven an Kraft und Stabilität werden uns kostenlos gegeben? Und übrigens, wie sieht es mit Energie aus? Ich habe die gleichen Fragen zur Energie. Gibt es ein Limit? Kann man sie komplett für Unsinn verschwenden und den Rest seines Lebens kraftlos dahinschleppen? Oder meine Lieblingsfrage: Wie viel Energie kann man sich von seinem zukünftigen Selbst leihen? Dann, wenn man den Gürtel enger schnallen und sich zusammenreißen muss und dieses Überwinden immer weitergeht, und kein Ende in Sicht ist, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als sich Energie und Kraft von seinem zukünftigen Selbst zu nehmen.
Und jetzt bin ich genau dieses „zukünftige Selbst“. Und ich möchte mich vor einem Jahr anrufen und sagen: „Du kleine Schlampe!“
TUE ES NICHT
Tue es einfach nicht
Denk nicht mal dran!
Du bist eine kleine Schlampe
Du bist eine kleine Schlampe, Nastya
